Aus: Dr. Martin Luthers deutsche Schriften

An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524, Auszug)

(Rechtschreibung sachte auf den heutigen Stand angeglichen)

Martin Luther

Die dritte ist wohl die allerhöchste, nämlich GOttes Gebot, der durch Mose so oft treibt und fordert, die Eltern sollen die Kinder lehren, daß auch der 78. Psalm spricht: wie hat er so hoch unsern Vätern geboten, den Kindern kund zu tun, und zu lehren Kindes Kind. Und das weist auch aus das vierte Gebot GOttes, da er der Eltern Gehorsam den Kindern so hoch gebeut [dicht. für: gebietet], daß man auch durchs Gericht töten soll ungehorsame Kinder. Und warum leben wir Alten anders, denn daß wir des jungen Volks warten, lehren und aufziehen? Es ist je nicht möglich, daß sich das tolle Volk soll selbst lehren und halten; darum hat sie uns GOtt befohlen, die wir alt und erfahren sind, was ihnen gut ist, und wird gar schwere Rechnung von uns für dieselben fordern. Darum auch Mose befiehlt (5. Mos. 32, 7) und spricht: Frage deinen Vater, der wird dir's sagen, die Alten werden dir's zeigen.

Wiewohl es Sünde und Schande ist, daß [es] dahin mit uns gekommen ist, daß wir allererst reizen und uns reizen sollen lassen, unsre Kinder und junges Volk zu ziehen, und ihr Bestes bedenken; so doch dasselbe uns die Natur selbst sollt' treiben, und auch der Heiden Exempel uns mannigfältig weisen. Es ist kein unvernünftig' Tier, das seiner Jungen nicht wartet und lehrt, was ihnen gebührt; ohne der Strauß, da GOtt von sagt (Hiob 39, 16), daß er gegen seine Jungen so hart ist, als wären sie nicht sein, und läßt seine Eier auf der Erden liegen. Und was hülf's, daß wir sonst alles hätten und täten, und wären gleich eitel Heiligen, so wir das unterwegen lassen, darum wir allermeist leben, nämlich des jungen Volks pflegen? Ich acht' auch, daß unter den äußerlichen Sünden die Welt vor GOtt von keiner so hoch beschwert ist, und so greuliche Strafe verdient, als eben von dieser, die wir an den Kindern tun, daß wir sie nicht ziehen.

Da ich jung war, führte man in der Schulen ein Sprichwort: Non minus est negligere scolarem, quam $orrumpere virginem: nicht geringer ist es, einen Schüler versäumen [im Sinne von: vernachlässigen], denn eine Jungfrau schwächen [Anmerkung: Selbt ohne Anwendung von Gewalt galt die Kränkung der jungfräulichen Ehre in den Augen unserer Vorfahren für ein sehr schweres Vergehen].

Das sagt man darum, daß man die Schulmeister erschrecke; denn man wußte dazumal keine schwerere Sünde, denn Jungfrauen schänden. Ach, lieber Herr GOtt, wie gar viel geringer ist's, Jungfrauen oder Weiber schänden, (welches doch als eine leibliche erkannte Sünde mag gebüßt werden) gegen dieser, da die edlen Seelen verlassen und geschändet werden, da solche Sünde auch nicht geachtet noch erkannt und nimmer gebüßt wird? O wehe der Welt immer und ewiglich. Da werden täglich Kinder geboren und wachsen bei uns daher, und ist leider niemand , der sich des armen jungen Volks annehme und regiere; da läßt man's gehen, wie es geht. Die Klöster und Stifte sollten's tun; so sind sie eben die, von denen Christus sagt Matth. 18, 6. 7: Wehe der Welt um der Ärgernis willen; wer dieser jungen einen ärgert etc.: Es sind nur Kinderfresser und Verderber.

Ja, sprichst du, solches alles ist den Eltern gesagt; was geht das die Rathsherren und Obrigkeit an? Ist recht geredet; ja, wie wenn die Eltern aber solches nicht tun, wer soll es denn tun? Soll es darum nachbleiben, und die Kinder versäumt werden? Wo will sich da die Obrigkeit und Rat entschuldigen, daß ihnen solches nicht soll gebühren? Daß es von den Eltern nicht geschieht, hat mancherlei Ursach'.

Aufs erste sind etliche auch nicht so fromm und redlich, daß sie es täten, ob sie es gleich könnten; sondern, wie die Strauße, härten sie sich auch gegen ihre Jungen, und lassen's dabei bleiben, daß sie die Eier von sich geworfen und Kinder gezeugt haben; nicht mehr tun sie dazu. Nun, diese Kinder sollen dennoch unter uns und bei uns leben in gemeiner Stadt. Wie will denn nun Vernunft und sonderlich christliche Liebe das leiden, daß sie unerzogen aufwachsen, und den andern Kindern Gift und Geschmeiße sein, damit zuletzt eine ganze Stadt verderb'; wie es denn zu Sodom und Gomorrha und Gada, und etlichen mehr Städten ergangen ist.

Auf's andre, so ist der größte Haufe der Eltern leider ungeschickt dazu, und nicht weiß, wie man Kinder ziehen und lehren soll. Denn sie selbst nichts gelernt haben, ohn' den Bauch versorgen; und gehören sonderliche Leute dazu, die Kinder wohl und recht lehren und ziehen sollen.

Auf's dritte, ob gleich die Eltern geschickt wären, und wollten's gern selbst tun, so haben sie vor andern Geschäften und Haushalten weder Zeit noch Raum dazu: also daß die Not zwingt, gemeine Zuchtmeister für die Kinder zu halten. Es wollte denn ein jeglicher für sich selbst einen eig'nen halten. Aber das würde dem gemeinen Mann zu schwer, und würde abermal manch feiner Knabe um Armuts willen versäumt. Dazu so sterben viele Eltern, und lassen Waisen hinter sich: und wie dieselben durch Vormünde versorgt werden, ob uns die Erfahrung zu wenig wäre, sollt' uns das wohl zeigen, daß sich GOtt selbst der Waisen Vater nennt, als derer, die von jedermann sonst verlassen sind. Auch sind etliche, die nicht Kinder haben; die nehmen sich auch drum nichts an.

Darum will's hie dem Rat und der Obrigkeit gebühren, die allergröste Sorge und Fleiß aufs junge Volk zu haben. Denn weil der ganzen Stadt Gut, Ehre, Leib und Leben ihnen zu treuer Hand befohlen ist, so täten sie nicht redlich vor GOtt und der Welt, wo sie der Stadt Gedeihen und Besserung nicht suchten mit allem Vermögen Tag und Nacht. Nun liegt einer Stadt Gedeihen nicht allein darin, daß man große Schätze sammle, feste Mauren, schöne Häuser, viel, Büchsen und Harnisch zeuge; ja, wo des viel ist, und tolle Narren drüber kommen, ist so viel desto ärger und desto gröserer Schade derselben Stadt; sondern das ist einer Stadt bestes und allerreichstes Gedeihen, Heil und Kraft, daß sie viel feiner, gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohlgezogener Bürger hat, die können darnach wohl Schätze und alles Gut sammlen, halten und recht brauchen.

Wie hat die Stadt Rom getan, die ihre Knaben also ließ ziehen, daß sie inwendig 15, 18, 22 Jahren aufs ausbündigste konnten lateinisch und griechisch, und allerlei freie Künste, (wie man sie nennt,) darnach flugs in den Krieg und Regiment. Da wurden witzige, vernünftige und treffliche Leute aus, mit allerlei Kunst und Erfahrung geschickt, daß, wenn man jetzt alle Bischöfe und alle Pfaffen und Mönche in deutschem Lande auf einen Haufen schmelzte, sollt' man nicht so viel finden, als man da wohl in einem römischen Kriegsknechte fand. Darum ging auch ihr Ding vonstatten: da fand man Leute, die zu allerlei tüchtig und geschickt waren. Also hat's die Not allzeit erzwungen und erhalten in aller Welt, auch bei den Heiden, daß man Zuchtmeister und Schulmeister hat müssen haben, so man anders etwas Redliches hat wollen aus einem Volk machen. Daher ist auch das Wort "Zuchtmeister" in S. Paulo, Galat. 3, 24. als aus dem gemeinen Gebrauch menschliches Lebens genommen, da er spricht: Das Gesetz ist unser Zuchtmeister gewesen.

"Weil denn eine Stadt soll und muß Leute haben; und allenthalben der größte Gebreche, Mangel und Klage ist, daß an Leuten fehle, so muß man nicht harren, bis sie selbst wachsen: man wird sie auch weder aus Steinen hauen, noch aus Holz schnitzen: so wird GOtt nicht Wunder tun, so lang man der Sachen durch and're seiner dargetanen Güter geraten kann"