Abtrünnige. In der langen Reihe von Bildern der Dogen im Palast
zu Venedig ist ein Platz leer, und etwas, was einem schwarzen Vorhang ähnlich
sieht, ist darüber gemalt als ein trauriges Zeichen verwirkter Ehre. Des
Verrates gegen den Staat schuldig befunden, ward Marino Falieri enthauptet, und
sein Bild soviel wie möglich aus dem Gedächtnis getilgt. Bei der Betrachtung
des seltsamen Denkmals dachten wir an Judas und an Demas, und als wir dann im
Geiste des Meisters warnendes Wort hörten: „Einer unter Euch wird mich
verraten“, thaten wir in unseren Herzen die feierliche Frage; „Herr, bin
ich’s ?“ Das Auge eines jeden verweilt länger bei dieser einen dunklen Stelle,
als bei den vielen schönen Bildern der Kaufmannsmonarchen; ebenso sind die von
der Kirche Abgefallenen weit häufiger Gegenstand des Gesprächs der Welt, als
die Tausende guter und wahrer Männer, welche die Lehre Gottes, unseres
Heilandes zieren in allen Stücken. Darum müssen diejenigen unter uns, deren
Bilder öffentlich als Heilige ausgestellt sind, um so sorgsamer sein, daß sie
nicht eines Tages aus der Galerie der Kirche heraus gemalt werden und nur noch
als verabscheuenswerte Heuchler in Erinnerung bleiben.
Und als sie aßen, sprach er: Wahrlich, ich sage Euch:
Einer unter Euch wird mich verraten. Matth. 26,21
Die
aber abweichen auf ihre krummen Wege, die wird der Herr dahinfahren lassen mit
den Übeltätern. Ps. 125,5
Denn
wenn der Gerechte sich abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht, so muß
er sterben; um seines Unrechts willen, das er getan hat, muß er sterben. Hes. 18,25
Aus:
Charles Haddon Spurgeon, Federn für Pfeile
Falieri, Marino. Von dem alten Palaste der
Dogen in Venedig führt eine prachtvolle Treppe, die scala dei giganti,
hinab auf einen kleinen, an die sogenannte Piazetta grenzenden Hof, und auf
dieser Riesentreppe war es, wo am 17. April 1355 das Haupt des 61jährigen Doge Marino Falieri
unter dem Beile fiel. In Venedig standen damals die Nobili dem Volk gegenüber,
wie einst im alten Rom die Patricier den Plebejern. Die Unterdrückten murrten
heftig und arbeiteten im Stillen an einem Racheplan. Eine bedeutende
Verschwörung bereitete sich vor, daß aber Falieri, der Doge, selbst
Theilnehmer daran wurde, war die Schuld seines schönen, jungen Weibes. Sie
fühlte sich an seiner Seite unglücklich und blieb bei den Huldigungen eines
jungen Nobile, Michelo Steno, nicht gleichgültig. Auf einem Maskenballe
entflammte die Kühnheit des Letzteren den Zorn und die Eifersucht des Dogen so sehr, daß eine
heftige Scene erfolgte. Steno reizte, beleidigte und beschimpfte den Greis,
welcher von den Gesetzen Genugthuung verlangte. Aber diese verurtheilten den
Nobile nur zu einer kurzen Gefängnißstrafe, während der Doge den Tod seines Nebenbuhlers
verlangte. Da ihm hierin nicht gewillfahrt ward, so beschloß er im wilden Zorne
sich der Volkspartei zu ergeben. Beim Klang der Sturmglocke sollten am Abend
des 15. April 1355 alle Nobili
ermordet werden. Aber Tags zuvor wurde die Verschwörung verrathen, mehrern das
Geständniß mittelst der Tortur abgepreßt und Marino auf derselben Stelle, wo er
ein Jahr zuvor der Republik Treue geschworen, enthauptet. Diese tragische
Begebenheit, so reich an Kämpfen der Leidenschaft, diente bereits mehrfach zum
Sujet von Trauerspielen und Erzählungen.
Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 4. [o.O.] 1835, S. 58-59.